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Inklusion auch an der Wahlurne

von Christine Reith

In Deutschland gilt das Wahlrecht für alle Bürgerinnen und Bürger. Damit auch Menschen mit Behinderungen gut informiert an der hessischen Landtagswahl 2023 teilnehmen können, hat antonius eine Info-Veranstaltung für seine Bewohnerinnen und Bewohnern organisiert. Sechs Kandidatinnen und Kandidaten stellten sich den Fragen, die der Fuldaer Beirat für Menschen mit Behinderungen zusammen mit antonius Bewohnern vorbereitet hatte. Es entwickelte sich eine lebendige, informative Debatte.

„Warum sind Wahlprogramme so schwierig geschrieben?“ „Bekomme ich später eine Rente, von der ich gut leben kann?“ „Warum werden Frauen immer noch benachteiligt?“ Fragen wie diese standen im Zentrum der Info-Veranstaltung zur hessischen Landtagswahl, zu der antonius und der Fuldaer Beirat für Menschen mit Behinderungen am Mittwoch, 13. September 2023, in die antonius Festscheune eingeladen hatten. Antworten gaben sechs Kandidatinnen und Kandidaten für Fulda und Bad Hersfeld: Thomas Hering (CDU), Silvia Brünnel (Bündnis 90/Die Grünen), Szymon Mazur (SPD), Pascal Möller (Freie Wähler), Wolfgang Lörcher (Linke) und Mario Klotzsche (FDP).

Bei seiner Begrüßung betonte Gerhard Möller, Vorsitzender der St. Antonius-Stiftung, den demokratischen Wert von Wahlen. Es sei ein Privileg, wählen zu dürfen und eine Stimme zu haben. „Wahlen sind der wichtigste Teil der Demokratie – und jede Stimme zählt“, betonte er. Sebastian Bönisch vom antonius Führungsteam und antonius Mitarbeiter Kai Hainemann übernahmen die Moderation und gaben den Politikern Gelegenheit für eine kurze Vorstellung sowie später ein Abschlussstatement.

Die Icebreaker-Frage „Wenn ich ein Tier wäre, welches wäre es?“ (3x Hund, Löwin, Nashorn, Biene) entspannte gleich zu Beginn die Stimmung, die durchweg zugewandt blieb. Das lag sicher auch am Format, das die Fragen der Menschen mit Behinderungen in den Mittelpunkt rückte. Diese wurden – unterstützt vom Offenen Kanal – per Video eingespielt. Die Veranstalter hatte die Kandidaten gebeten, bei ihren Antworten langsam zu sprechen, Sachverhalte verständlich zu erklären und eine einfache Sprache zu verwenden. „Leichte Sprache ist unglaublich wichtig, aber auch unglaublich schwer“, sagte Silvia Brünnel und verwies auf das Wahlprogramm ihrer Grünen, das ebenso wie das der FDP und Linken in Leichter Sprache vorliegt. „Wir haben das noch nicht, aber ich nehme es als Hausaufgabe mit“, versprach Thomas Hering von der CDU. Als eine Anwesende bat, nicht den Begriff „Handicap“ zu verwenden, sondern wertfrei von „Menschen mit Behinderungen“ zu sprechen, zeigte Thomas Hering sich dankbar für diesen Hinweis und das Konzept der Veranstaltung: „Politik ist nicht nur da, um den Leuten etwas zu erklären, sondern auch, um sich etwas erklären zu lassen und etwas mitzunehmen.“

Die Themenfelder der Fragerunde reichten von Sicherheit, Geld und Wohnen über Mobilität, Gesundheit und Umwelt bis hin zu Arbeit und politischer Teilhabe. Bei vielen Fragen ging es konkret um Anliegen von Menschen mit Behinderungen, etwa bei der Barrierefreiheit, dem Fachkräftemangel in der Pflege oder den Hürden auf dem ersten Arbeitsmarkt. Warum bekommen Mitarbeitende in Werkstätten für Menschen mit Behinderung keinen Mindestlohn, warum sind Schulen nicht inklusiver oder warum bekommen Menschen mit Behinderungen so schwer einen Arzttermin – darüber wurde sachlich und auch kontrovers diskutiert. Einigkeit herrschte darüber, dass Hessen mehr Lehrerinnen und Lehrer brauche und inklusiver werden müsse, wozu zuerst Barrieren in den Köpfen abgebaut werden müssten. „Inklusion ist kein abstraktes Ideal, sondern ein konkreter Auftrag, und für den müssen wir miteinander und voreinander lernen so wie heute. Ich jedenfalls nehme viele Anregungen mit“, resümierte Szymon Mazur von der SPD.

Zum Thema Gesundheit brachte antonius Geschäftsführer Sebastian Bönisch noch ein Anliegen ein, für das er sich dringend Unterstützung von den Politikerinnen und Politikern wünscht: „Die aktuelle ‚Sieben-Minuten-Medizin‘ ist absolut nicht in der Lage, den Bedürfnissen von Menschen mit Behinderungen gerecht zu werden – da braucht es schnellere Veränderungen als eine bessere Ausbildung oder Landarztquote. Es muss dringend mehr für die Gesundheit der Menschen getan werden. Wir von antonius sind deshalb selbst aktiv geworden und haben jetzt endlich nach vielen Jahren die Genehmigung bekommen für ein Medizinisches Zentrum für erwachsene Menschen mit Behinderungen, in dem ein interdisziplinäres Team vor Ort ist und sich mehr Zeit für die Patientinnen und Patienten nehmen kann. Dafür wünschen wir uns mehr politische Unterstützung.“

Zum inklusiven Vorbereitungsteam der Veranstaltung gehörten Anne Riemenschneider, Christian Strunz, Leonie Weber, Oliver Teutloff, Rainer Gernet, Susann Kuppardt, Detlef Fischer von antonius sowie Christian Strunz und Manuela Pleterschenk vom Beirat für Menschen mit Behinderungen der Stadt Fulda.

Zusatzinfo: Inklusives Wahlrecht
Das Wahlrecht gilt für alle? Das lernen wir zwar in der Schule, bis 2019 war das allerdings anders: Bis dahin nämlich waren Menschen mit Behinderungen, die in allen Angelegenheiten rechtlich betreut wurden, von Wahlen ausgeschlossen. Verbände haben lange gegen diese gravierende menschenrechtliche und bürgerrechtliche Diskriminierung gekämpft. Erst 2019 erklärte das Bundesverfassungsgericht die zwei betreffenden Paragraphen des Artikels 13 des Bundeswahlgesetzes für verfassungswidrig und strich diese. Im Oktober 2019 hat auch der hessische Landtag das Wahlrecht geändert und den Wahlausschluss von Menschen mit Behinderungen und Vollbetreuung abgeschafft.

Fotos: Steffen Wassmann

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