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„Mit der Diagnose Down-Syndrom hört das Leben nicht auf, es geht nur anders weiter“
von Christine Reith
Als Familie Petermann aus Fulda erfährt, dass ihr Zweitgeborener das Down-Syndrom hat, ist die Diagnose erstmal völlig egal. Sohn Titus schwebte damals in Lebensgefahr, er sprang dem Tod – wie seine Mutter sagt – im ersten Lebensjahr „mehrfach von der Schippe“. Heute ist der Elfjährige ein zufriedener, fitter Junge. Morgens läuft er mit seiner kleinen Schwester Pia zur Antonius von Padua Schule, nachmittags trifft er sich mit Freunden oder spielt mit dem großen Bruder Julius, und die Ferien verbringt er im Messdiener-Zeltlager. Ein Einblick zum heutigen Welt-Down-Syndrom-Tag.
Zwanzig Minuten dauert der Schulweg von Titus Petermann und seiner Schwester Pia zwischen Innenstadt und Antonius von Padua Schule. Er führt entlang großer Straßen und ordentlich bergauf und bergab. Viele haben bezweifelt, dass der Junge den Weg jemals ohne Begleitung Erwachsener zurücklegen wird. Doch einige haben an ihn geglaubt und ihn darin bestärkt, selbstständig in der Laufgruppe der Nachbarskinder mitzugehen. Und tatsächlich: Nach drei Jahren bewältigt Titus die Strecke voller Stolz auch alleine.
So viel Selbstständigkeit und Normalität wie möglich
Die Mobilität ist einer von vielen Schritten, die Familie Petermann geht, um die Eigenverantwortung ihres Sohnes zu stärken. Titus kam mit Trisomie 21 – auch Down-Syndrom genannt – auf die Welt. Die genetische Besonderheit, dass er das 21. Chromosom drei Mal hat, kann mit kognitiven, motorischen und gesundheitlichen Hürden verbunden sein. Titus etwa lernt langsamer und kann nicht so gut sprechen. Als Baby leidet er unter einem lebensbedrohlichen Darmverschluss und Schlaf-Apnoe, beides gängige Komplikationen bei Trisomie 21-Kindern.
Trotz aller Hindernisse: Das Ziel der Petermanns ist größtmögliche Selbstständigkeit für jedes ihrer drei Kinder. Möglich macht das auch die Antonius von Padua Schule. 2014 hat die Förderschule ihre Grundschule für Kinder ohne Behinderung geöffnet, und so können Titus und seine achtjährige Schwester Pia zusammen zur Schule gehen – bundesweit eine Besonderheit. Das Konzept sieht vor, dass unterschiedliche Kinder miteinander und voneinander sowie klassenübergreifend lernen.
„Pia kann ihre Stärken ausbilden, in ihrem flotteren Tempo arbeiten und sich komplexeren Lernstoff aneignen. Titus hat einen möglichst normalen Schulalltag, viele gute Vorbilder und ihm wird abverlangt, sich anzustrengen oder Dinge eigenständig zu bewältigen. Gleichzeitig haben die Kinder den gleichen Erfahrungshorizont – davon profitieren wir als Familie enorm“, beschreibt es Mutter Sabine Petermann. Auch die Einbettung der Schule in das antonius Netzwerk wirke positiv. Das Team vom Förderzentrum Zitronenfalter von antonius beispielsweise therapiert die Kinder in der Schule – übrigens erst am Nachmittag, damit keine wertvolle Lernzeit verloren geht. Titus und Pia haben bereits die netzwerkeigene und ebenso inklusive Kita ambinius besucht.
Begabungsgerechte Schule für alle
Mittlerweile besucht Titus die fünfte Klasse der Antonius von Padua Schule, was Veränderungen mit sich bringt. Denn: Derzeit ist ausschließlich die Grundschule inklusiv. Die Mittelstufe ab Klasse fünf ist eine reine Förderschule, die ausschließlich Schülerinnen und Schülern mit Behinderungen offensteht. „Viele Familien erleben das Ende der inklusiven Beschulung als Bruch und stigmatisierendes Moment“, sagt Schulleiterin Lysann Elze-Gischel. „Es wäre für alle Schülerinnen und Schüler ein Gewinn, wenn es in den höheren Jahrgängen genauso weiterginge, denn eine natürliche Durchmischung ist wahnsinnig wichtig, damit Kinder sich gut entwickeln. Eine offene Schule für alle ist eine begabungsgerechte Schule, denn sie begrenzt nicht von vorneherein die Möglichkeiten, was oder wie gelernt werden soll. Deswegen freuen wir uns, dass wir nun im ersten Schritt die Schulplätze in der Grundschule verdoppeln. Grundsteinlegung für ein neues Gebäude ist in diesem Mai.“
Auch Familie Petermann würde es begrüßen, wenn alle Bildungseinrichtungen und später Arbeitsplätze inklusiv gestaltet wären. In der Freizeit entscheiden sich Titus und seine Familie oft bewusst für Angebote, die sich nicht explizit oder ausschließlich an Kinder mit Behinderungen richten. Im Schwimmkurs oder beim Ballett war er oft der einzige mit Beeinträchtigung, ebenso bei der Stadtpfarrei: Hier ist Titus Messdiener und verbringt gerne Wochenenden und Ferien im Zeltlager mit der Gemeinschaft aus den anderen Kindern und den engagierten Gruppenleitern, die es ermöglichen, dass er ohne Begleitung teilnehmen kann.
Weniger Schubladendenken und mehr echte Perspektiven
Als herausfordernd beschreibt die Familie, dass ihr Sohn auch unterschätzt oder vorschnell in Schubladen gesteckt werde. „Oftmals werden Fähigkeiten von Kindern mit Down-Syndrom verallgemeinert – vermutlich aufgrund des auffällig ähnlichen Aussehens“, beschreibt es Titus‘ Mutter. „Dabei sind auch sie wie alle anderen Kinder unterschiedlich in Körperverfassung, Entwicklung und Interessen. Wir jedenfalls waren sehr glücklich, nach mehreren Anläufen eine tolle Schwimmlehrerin gefunden zu haben, bei der Titus schwimmen lernen konnte und ebenso über seine tolle Ergotherapeutin, die es immer wieder schafft, ihn zu motivieren und zu fordern. Das Klischee des schwachen Muskeltonus widerlegt Titus mit seiner Leidenschaft fürs Klettern in der Boulderhalle.“
Eine Stütze für die Familie ist der Kontakt zu anderen Familien mit ähnlichen Erfahrungen, etwa im Elternkreis Down-Syndrom oder bei der Lebenshilfe Fulda e.V., deren Vorsitzende Sabine Petermann mittlerweile ist und die ihren Sitz im antonius Quartier hat. Auch die Elternschaft der Padua-Schule sei eine lebendige Gemeinschaft. „Viele Eltern eint die Erfahrung, die auch wir gemacht haben: Dass die Diagnose – ob Down-Syndrom oder eine andere Beeinträchtigung – das Leben nicht beendet, wie man vielleicht zuerst befürchtet, sondern das Leben verändert und bereichert.“
Und was wünscht sich Familie Petermann für Titus‘ Zukunft? „Alles, was ihn glücklich macht – und das muss ja nicht etwas sein, was man gängig als Glück bezeichnet. Das darf Titus selbst herausfinden, wie alle anderen jungen Menschen im Übrigen auch. Im Moment erscheint sein Werdegang allerdings erschreckend vorhersehbar: Von der Förderschule in die Werkstatt. Diesen scheinbar unausweichlichen Automatismus hinterfragen wir und wollen Alternativen finden. Wir sind dankbar für all die guten Möglichkeiten, die wir hier in Fulda vor Ort haben, und wünschen uns noch weniger Schubladendenken und mehr echte Perspektiven.“
Bildung ohne Barrieren, Wahlfreiheit beim Wohnen und Arbeiten, Teilhabe im Alltag und Zugang zu guter Gesundheitsversorgung: Dafür setzen sich überall in der Bürgerstiftung antonius Menschen ein, um echte Perspektiven für Menschen mit Beeinträchtigungen zu ermöglichen – sei es an der Antonius von Padua Schule, an der Arbeitsschule Startbahn, im Unternehmernetzwerk Perspektiva oder in den zahlreichen Betrieben. Unter der Devise „Jeder Mensch hat Talente“ ist es das Ziel, jede Person zu einem erfüllenden Privat- und Berufsleben zu befähigen.
Bilder: Steffen Waßmann/Ralph Leupolt/privat
Heute ist Welt-Down-Syndrom-Tag
Den internationalen Aktionstag gibt es seit 2006, seit 2012 ist er von den Vereinten Nationen anerkannt. Er findet jedes Jahr am 21.3. statt. Ziel ist es, zum Thema Down-Syndrom aufzuklären und Inklusion zu fördern. Beim Down-Syndrom handelt es sich um eine genetische Veränderung im „Bauplan“ unserer Zellen: Das Chromosom 21 ist dreifach statt zweifach vorhanden, wodurch sich die Chromosomenzahl der Körperzellen von 46 auf 47 erhöht. Wie sich die genetische Grundausstattung auf die Entwicklung des jeweiligen Menschen auswirkt, ist völlig unterschiedlich. Menschen mit Down-Syndrom können geistig und körperlich schwer behindert sein, andere sind körperlich gesund und durchschnittlich intelligent.