Wo die Sperrmüllkönigin regiert

Im Fischfeld bedeutet Nachbarschaft Familie

Fulda - Wer das Glück hat, durch die kleine Straße „Im Fischfeld“ in Fulda zu spazieren, dem fällt vielleicht zunächst nicht auf, was hier gewachsen ist. Keine Schilder, keine Denkmäler – aber hinter jedem Vorgarten, in jeder Geste, steckt ein außergewöhnlicher Zusammenhalt. Die rund 18 Haushalte dieser Nachbarschaft haben über die Jahre etwas geschaffen, das viele suchen und nur wenige finden: eine Gemeinschaft, die sich wie Familie anfühlt.

„Wir feiern zwar viel, aber in erster Linie geht es dabei um das Miteinander“, sagt Benedikt Höhne, einer der vielen engagierten Nachbarn, die das Leben im Fischfeld prägen. Der berühmteste Anlass: das zweimal jährlich stattfindende Sperrmüllfest. Was als spontanes Treffen beim Herausstellen alter Möbel begann, ist heute ein festes Ritual. Wer den meisten Sperrmüll aufbietet, wird zur Sperrmüllkönigin oder zum Sperrmüllkönig gekrönt – mit Zepter, Thron und natürlich einer Krone, die in liebevoller Handarbeit aus Sperrmüll gefertigt wird. Es wird gelacht, gegessen, musiziert – und ja, manchmal auch leise an die Nachbarn gedacht, die nicht mehr dabei sein können. Eine Witwe bringt zum Beispiel bis heute den Schnapskorb ihres verstorbenen Mannes mit – eine liebgewonnene Tradition, die weiterlebt.

Doch Im Fischfeld geht es längst nicht nur ums Feiern. Die Nachbarn helfen einander, wo sie nur können. Wer in den Urlaub fährt, weiß, dass Blumen gegossen und der Briefkasten geleert werden. Wer zum Baumarkt fährt, fragt in der WhatsApp-Gruppe nach, was mitgebracht werden soll. Die Eier kommen aus Familie Höhnes Garten, wo glückliche Hühner auch mal Besuch von neugierigen Kindern bekommen. Und wenn jemand krank ist, dann wird selbstverständlich eingekauft, gefahren, geholfen – ohne große Worte.

Ein echtes Markenzeichen der Straße ist – neben der großen Anzahl von VW Käfern und einer kleinen Version der Schlossturm-Krone – ihr kultureller Reichtum. Hier leben Menschen mit Wurzeln in Eritrea, Spanien, der Türkei, Bosnien, Italien – und feiern gemeinsam. Bei einer eritreischen Kaffeezeremonie wird von Hand gegessen, beim spanischen Abend duftet eine riesige Paella durch die Straße, und beim Hutzelfeuer im Frühjahr wärmt sich die ganze Nachbarschaft an der lodernden Glut. Statt auf Vorurteile treffen Menschen mit anderen kulturellen Hintergründen hier auf Offenheit und Respekt. Als etwa Alganesh Werasi, die amtierende Sperrmüllkönigin, 2009 einzog, wurde sie mit gelben Rosen willkommen geheißen – ein Moment, den sie nie vergessen hat.

Auch Integration wird im Fischfeld aktiv gelebt. Als ein junger Geflüchteter aus Eritrea in den Straßenverband aufgenommen wurde, steuerte jeder Nachbar Möbel und Haushaltsgeräte bei – der Start in ein neues Leben mit festen Wurzeln. Fünf Jahre blieb er, nannte Sylvia Höhne „Mama“ und nennt sie heute liebevoll „Oma“, da er inzwischen selbst Kinder hat.

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Kinder wachsen hier mit dem Selbstverständnis auf, dass Gemeinschaft nicht nur ein Wort ist. Sie spielen auf der Straße, helfen beim Gärtnern und übernehmen kleine Aufgaben. Die Älteren, manche über 80, werden respektiert, integriert, umsorgt. Es ist ein generationenübergreifendes Miteinander, wie man es sich in einer idealen Welt wünscht – hier ist es Realität.

Und weil der Blick über den Tellerrand dazugehört, engagieren sich die Fischfelder auch für die Natur. Insektenhotels, Nistkästen, Igelhäuser und bunte Gärten sind Ausdruck eines gelebten Umweltbewusstseins, das weitergegeben wird – vom Huhn bis zum Hochbeet.

Im Fischfeld weht kein Hauch von Anonymität. Stattdessen liegt über dieser Straße ein spürbarer Geist von Zusammenhalt, Humor, Toleranz und Fürsorge. Eine Familie, in der jede und jeder willkommen ist. Wer einmal hier gelebt hat, erinnert sich ein Leben lang. Wer hier lebt, möchte nie mehr weg.